Joachim von Seydlitz

Schmerz

Mehr als 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind von chronischen Schmerzen betroffen. Die meisten leiden unter Kopfschmerzen und Rückenschmerzen. Akute Schmerzen haben eine Warnfunktion und dienen dazu, uns vor Verletzungen und Schädigungen zu schützen.

Chronische Schmerzen jedoch haben diesen Charakter verloren und stellen ein eigenständiges Krankheitsbild dar. Sie haben zunehmend Auswirkungen auf die gesamte Lebensgestaltung. Betroffen sind meist die Arbeitsfähigkeit, die Möglichkeit 'normalen‘ Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, die Partnerschaft und die Freundschaften.

Mehr und mehr wird das bisherige Leben unmöglich und die Betroffenen ziehen sich zurück. All dies verstärkt das Erleben der Schmerzen, was zu einem Teufelskreis führt. Es besteht die Gefahr, dass der Schmerz irgendwann das ganze Leben bestimmt und es kaum noch etwas anderes gibt.

Dieser Gefahr kann Psychotherapie entgegenwirken und so dabei helfen, aus dem Teufelskreis auszubrechen und die Schmerzen anders und auch schwächer zu erleben.

Schmerzgedächtnis

Schmerz ist ein ausgesprochen subjektives Erleben. Immer wieder wird versucht, ihn objektiv zu messen oder darzustellen. Das ist jedoch kaum möglich.
So können auch scheinbar harmlose Schäden des Körpers bei einigen Menschen heftige Schmerzen auslösen. Oder aber Körperteile sind nach einer Operation wieder weitgehend hergestellt. Der Bandscheibenvorfall zum Beispiel ist beseitigt.

Und trotzdem empfinden einige heftigste Schmerzen, gegen die auch Medikamente kaum helfen.
Hier kommt zum Schmerz dann auch noch das Unverständnis der Umwelt hinzu. Der Schmerz wird nicht geglaubt, man fühlt sich als ‚Jammerlappen‘, Hypochonder‘ oder ‚Drückeberger‘ bezeichnet oder angesehen.

Teilweise werden Patienten auch im medizinischen System, von dem sie sich ja Hilfe erhoffen, so gesehen und abgetan.
Dies verstärkt natürlich deutlich das Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Häufig beginnen sich Patienten mit chronischen Schmerzen sogar für eben diese Schmerzen zu schämen. Scham nun wieder wird ähnlich wie körperlicher Schmerz empfunden und verarbeitet und teilweise als ‚sozialer Schmerz‘ bezeichnet. Hier wird offensichtlich, dass diese psychischen und sozialen Faktoren vom körperlichen Schmerz nicht mehr zu trennen sind und sich gegenseitig verstärken. Es wird aber auch deutlich, wie Psychotherapie hier helfen und unterstützen kann: Scham ist natürlich ein psychotherapeutisches Thema und der damit verbundene soziale Rückzug selbstverständlich auch.

Körperlich wirkt bei solchen schwer verständlichen Fällen von Schmerzchronifizierung das, was man als Schmerzgedächtnis bezeichnet:
Schmerzen werden im Körper - hauptsächlich im Rückenmark und im Gehirn - auf vielfältige Weise automatisiert und unbewusst gefiltert und abgeschwächt. Leider haben diese körpereigenen Schmerzfilter bei chronischen Schmerzen die deutliche Tendenz zu ermüden. Sie verlieren mehr und mehr ihre Wirksamkeit und jeder Schmerzreiz wird jetzt ungefiltert oder gar verstärkt wahrgenommen.

Zudem kommt es bei chronischen Schmerzen zu strukturellen Veränderungen in schmerzverarbeitenden Teilen des Gehirns und des Rückenmarks. Dies kann dann dazu führen, dass tatsächliche Schmerzreize wesentlich verlängert oder verstärkt wahrgenommen werden. Oder aber Reize werden als schmerzhaft wahrgenommen, obwohl sie das ‚normalerweise‘ nicht sind. Auch eine räumliche Ausbreitung des schmerzhaften Gebietes oder eine Verlagerung in ‚eigentlich‘ nicht betroffene Areale ist möglich.

Der Schmerz ist also zu einem eigenständigen Krankheitsphänomen geworden und hat sich von der ursprünglichen Gewebsverletzung gelöst. Nichtsdestotrotz ist er völlig real und natürlich nicht ‚eingebildet‘.

Der chronische Schmerz hört auf ‚nur‘ eine Reaktion auf Gewebs- oder Nervenverletzungen zu sein. Auch diese können natürlich weiterhin bestehen und Schmerzen bereiten. Der Schmerz jedoch verselbständigt sich und wird zu einer eigenständigen Erkrankung. Dieser Prozess der Chronifizierung des Schmerzes geschieht nicht nur auf neuronaler Ebene. Wichtige Faktoren bei der Schmerzchronifizierung stellen auch psychische Faktoren, Denkmuster und Verhaltensmuster dar.

So stehen Angst und Depressivität und chronischer Schmerz in einem ganz engen Zusammenhang. Eine Schmerzchronifizierung findet wesentlich eher bei depressiven Menschen statt. Andererseits fördert chronischer Schmerz natürlich auch eine bestehende Depressivität oder lässt sie sogar erst entstehen. Wenn alle Aktivitäten durch Schmerz getrübt sind, die Hobbys nicht mehr ausgeübt werden und die Freunde nicht mehr getroffen werden, so wird man schnell depressiv.
Auch bestimmte negative Denkmuster, die häufig mit ‚Katastrophendenken‘ bezeichnet werden, fördern die Chronifizierung von Schmerzen: ‚Jetzt wird alles noch viel schlimmer“ – „Ich halte das nicht mehr aus“ – „Ich muss mich schonen und darf mich nicht belasten“ sind nur Beispiele, die Hilflosigkeit und Passivität fördern. Und diese nun wieder fördern das Schmerzerleben erheblich.

Eine Löschung des beschriebenen Schmerzgedächtnisses ist leider nicht möglich. Schmerzen werden erinnert. Man kann jedoch versuchen, das Schmerzgedächtnis durch neue Erfahrungen zu überschreiben. Dazu sind neue körperliche Verhaltensmuster und neue Denk- und Erlebensmuster hilfreich. Diese kann man in einer Schmerzpsychotherapie fördern und aktivieren.

Chronische Erkrankung

Für chronische Erkrankungen oder die Zeit nach einer schweren akuten Erkrankung, wie etwa Krebs, schweren Herzerkrankungen oder neurologischen Krankheiten gilt etwas ähnliches wie beim Schmerz.

Nur stehen hier zusätzlich häufig noch die traumatisierenden Erfahrungen der Diagnosefindung oder der Behandlungen und Operationen im Vordergrund.

Auch Ängste vor dem Ergebnis neuer Kontrolluntersuchungen, der Verschlechterung der Symptomatik oder dem Wiederaufflammen der ursprünglichen Erkrankung spielen eine wichtige Rolle. Diese Ängste stellen für sich genommen ein großes Problem dar, können aber auch reaktiv den eigentlichen Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen. Man bezeichnet dies als Progredienzangst.

Bei den meisten dieser Erkrankungen kommt es zudem zu plötzlichen oder fortschreitenden Veränderungen der körperlichen Möglichkeiten:
So kann man etwa nicht mehr gehen wie früher, das Heben fällt schwer, körperliche Grundfunktionen stellen ihren Dienst ein oder machen Probleme. Viele sind schnell erschöpft oder bekommen gar Fatigue. Die Lust zum Sex ist eingeschränkt oder ganz verloren gegangen oder die körperliche Möglichkeit dazu besteht vielleicht gar nicht mehr. Zudem leidet, Studien zufolge, ungefähr ein Drittel aller Krebspatienten nach überstandener Krebserkrankung teilweise noch jahrzehntelang an chronischen Schmerzen, die häufig auch nur schwer medikamentös zu behandeln sind. Diese Schmerzen stellen eine erhebliche Belastung für die Lebensqualität dar.

Kind

Beugen Sie sich über Ihren Schmerz wie über ein Kind, das sie sanft streicheln möchten.
Jack Kornfield

All dies führt zu heftigen inneren und äußeren Veränderungen. Wir müssen uns und unsere Identität anders definieren. In der Partnerschaft gibt es Probleme und sei es „nur“, dass wir selber denken, dem Partner nicht mehr zu genügen oder nicht mehr attraktiv für ihn zu sein. Wir können unsere Hobbys nicht mehr ausüben und verlieren so Freundschaften. Wir können unserer Arbeit nicht mehr in gewohnter Weise nachkommen oder gar überhaupt nicht mehr arbeiten.

Die schiere Dauer der chronischen Erkrankung führt mit der Zeit zu einer Ermüdung. Der ständige Schmerz und ganz besonders die unglaubliche Enttäuschung, wenn es nach einer Zeit der leichten Besserung, in der man Hoffnung geschöpft hat, dann doch wieder schlechter wird, rauben die letzte noch verbliebene Kraft. Dann drohen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Auch hier können Psychotherapie, Psychoonkologie und Schmerzpsychotherapie helfen, wieder Mut zu schöpfen.

Fast immer werden diese Prozesse ausschließlich als Verlust erlebt. In jedem Fall aber müssen wir loslassen lernen.